So drehte der dicke Franz das Millionending
Walfrid REISMANN – Printausgabe vom März 1987 – Die ganze Woche
Der Fall Lettmüller weitet sich zur gigantischen Affäre. Schaden derzeit 220 Millionen. Lesen Sie hier erstmals die neuen, sensationellen Hintergründe
Genau zwei Wochen ist es schon her, da legte der Buchhalter Franz Lettmüller, 39, das erste Geständnis ab. „Ich bin froh, daß jetzt alles vorbei ist“, seufzte er nach der polizeilichen Einvernahme.
Vorbei war freilich nur das verschwenderische Doppelleben des Großbetrügers. Vom Ende seiner Affäre konnte noch keine Rede sein. Im Gegenteil: Die Wirtschaftspolizei stieß seither Tag für Tag auf neue Fakten. Und mit jedem gefälschten Scheck, der in die Öffentlichkeit platzte, erreichte der Kriminalfall eine immer gigantischere Dimension. Die derzeitige Schadensbilanz: 220 Millionen. „Wir wissen nicht, wie viele Gläubiger sich noch melden werden“, erklärte Dr. Veit Sorger, 44, Krisenmanager der geschädigten Handelsgesellschaft Europapier.
„Das dürfte der größte, langwierigste und wohl auch interessanteste Betrugsprozeß in der jüngeren Geschichte unserer Justiz werden“, mutmaßte ein eingeweihter Jurist. Und auch für die heimische Finanzwelt stellt sich Lettmüllers Millionending schon jetzt als absoluter Präzedenzfall dar: „Der Mann muß ein wahres Finanzgenie gewesen sein: Seine Methode, in einer hochangesehenen und seriösen Firma trotz penibelster Buchprüfungen und Finanzkontrollen über 200 Millionen zu unterschlagen, ohne daß der Betrug entdeckt werden konnte, stellt alle bisher angewandten Kontrollmechanismen in Frage. Die Folgen auf dem Gebiet der Wirtschaftsprüfung sind noch nicht abzusehen“, meinte ein Finanzexperte.
Wie hat es Franz Lettmüller, der bei Europapier als Finanzprokurist und Buchhalter monatlich 37.000 S brutto verdiente, nun wirklich angestellt?
Erstens fälschte er Steuerschecks samt den Belegen. Auf den Durchschlägen, die in der Firma blieben, schrieb er eine einzige Ziffer dazu: Zum Beispiel setzte er vor die Summe 286. 733 die Zahl zwei. Die Differenz betrug Millionen, die er sich mit Barscheck auszahlen ließ und privat abhob.
Neben dieser eher plumpen Manipulation kam der Buchhalter auf weit raffiniertere Ideen: Da er in einem Unternehmen arbeitete, das bei allen Banken höchste Bonität genoß, nahm Lettmüller bei Banken, mit denen Europapier keine Geschäftsverbindungen hatte, in Eigenregie Kredite auf, die in der Firma natürlich nie aufschienen. Ein Beispiel: Von zehn Krediten, die Lettmüller „im Namen der Firma“ aufnahm, waren höchstens drei ordnungsmäßig in der Bilanz. Bei den letzten sechs Bilanzprüfungen flog er damit nicht auf. Ein Wirtschaftsexperte: „Man kann vom Prüfer doch nicht verlangen, daß er alle Banken in Österreich anruft und anfragt, ob vielleicht ein Kredit aufgenommen wurde, der in den Büchern nicht aufscheint.“
Wirklich genial wurde Lettmüllers Methode erst durch die Tatsache, daß alle seine Abrechnungen stets auf den Groschen gestimmt hatten. Das heißt, er glich alle Zinsen aus, stopfte stets ein Loch wieder rechtzeitig zu, ehe er ein neues aufriß und blieb stets Herr aller Krisensituationen.
Die Direktoren des Papierkonzerns – Jahresumsatz 1,2 Milliarden – wußten nie, wie hoch die Schulden des florierenden Musterbetriebes tatsächlich waren.
Das wußte in der ganzen Firma nur Franz Lettmüller, der in seiner privaten Welt beim Trabrennen und bei den Frauen eine ganz große Nummer war.
Möglicherweise müssen einige Banker zumindest geahnt haben, daß bei Lettmüller nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein könnte. Hier laufen die Untersuchungen noch.
Beinahe wäre der Skandal schon 1981 aufgeflogen. Da gab es die ersten firmeninternen Verdachtsmomente: Eine Sekretärin hatte sich in die Krieau verlaufen und gesehen, wie Lettmüller dort als großer Mäzen agierte. Sie fragte den Generaldirektor ihrer Firma: „Wie macht das der Franz, daß er so mit dem Geld herumschmeißen kann?“ Man heuerte Detektive an, die herausfanden, daß Lettmüller eine Erbschaft gemacht haben soll. Zehn Millionen. Oder 20 Millionen. Von einer Tante. Oder von seinem Vater. Diese vagen Erklärungen reichten aus, um dem Finanzprokuristen bei Europapier wieder restlos zu vertrauen: Franz war jeden Arbeitstag vor acht im Büro, um rechtzeitig den Posteinlauf zu kontrollieren. Er konnte sich in seiner Situation weder Krankheit noch Urlaub leisten.
Erst eine Steuermahnung, die am Montag, dem 9. März 87, zu einem Finanzstrafverfahren eskalierte, bereitete Lettmüllers buchhalterischen Bravourstückerln ein jähes Ende. Verzweifelt versuchte er unterzutauchen. Er flüchtete nach Salzburg, wo sein Lieblingspferd Lucky Joe im Training stand. Gewinnsumme 540.000. Derbyfavorit 1987.
Aufgestöbert wurde Lettmüller von einem Detektiv der Agentur Pöchhacker Donnerstag um vier Uhr früh im Gasthaus „Zum Bierführer“ in der Pongauer Ortschaft Goldegg. Um diese Zeit war kein Wirtschaftspolizist zu erreichen. So nahmen die Ortsgendarmen erst am Vormittag den Defraudanten fest.
Auch in Traberkreisen stürzte eine Welt zusammen: Der dicke Franz war ein großer Mäzen. Seine Gäste, die er freihielt, glaubten, er sei der reichste Mann in Osterreich.
Er liebte die Pferde. Und noch mehr die Frauen. Fünf Kinder aus zwei Ehen. Ein Kind mit seiner Freundin Irene B., einer lebenslustigen Blondine: „Sie war sein Untergang, ihr war er hörig. Sie hat ihn ein Vermögen gekostet“, weiß ein Insider. „Sie ist die Schlüsselfigur des gigantischen Dramas.“
Irene gab dazu noch keine Erklärung ab. Sie hat jetzt einen Juwelier geheiratet und macht gerade Flitterwochen in Griechenland.