Mit den Waffen einer Frau
Sophie Fielhauer u. Elisabeth Krammer – Printausgabe vom 03.06.1993 News |
Wehr dich! Allein in Österreich werden pro Jahr 500 Vergewaltigungen angezeigt. Und die Dunkelziffer ist erheblich höher. Nun schlagen die Frauen mit aller Kraft zurück: Kurse zur Selbstverteidigung boomen. NEWS nennt die besten Adressen: Hier lernen Frauen, sich zu wehren.
So schlagen sie zurück: Vom sanften Konter zur rechten Geraden
Der Fahrgast, den die junge Taxilenkerin gegen 2 Uhr früh übernehmen muß, bläst ihr eine üble Alkoholwolke ins Genick und lallt Obszönitäten. Dann tastet seine Hand nach ihrem Oberschenkel. Doch die weiteren Ereignisse gestalten sich gänzlich anders, als der promilleschwere Gelegenheits-Gigolo erwartet hat. Katharina M., 27, die Frau am Steuer, rekapituliert nicht ohne Befriedigung: „Ich hab‘ ihn mit einem Faustrückenschlag bedient und aus dem Taxi geschmissen. Ich habe zugeschlagen, ohne einen Augenblick lang zu zögern.“ Katharina M. hat ihre anerzogene Schlaghemmung beim „Wing Tsun“ – Selbstverteidigungskurs (Näheres siehe nächste Seite) abgebaut. „Früher habe ich mich wehrlos gefühlt. Jetzt bin ich stark und selbstsicher.“
Katharina M. ist eine von zahllosen Frauen, für die der Alptraum eines tätlichen Angriffs Realität geworden ist – und eine der wenigen, die gegen den Zugriff gewappnet waren.
Nach einer amerikanischen Studie (200.000 befragte Frauen) ist die Angst vor Gewalt die drittgrößte Sorge der Frauen. Nur die Panik vor dem Altern und vor der Trennung vom geliebten Menschen ist größer.
500 Vergewaltigungen. In Österreich werden jährlich fast 500 Notzuchtfälle angezeigt. Die Dunkelziffer wagt allerdings nicht einmal die Polizei zu schätzen. Frauenhaus-Koordinatorin Rosa Logar: „Es dürfte etwa fünf bis zehnmal so viele Fälle geben wie Anzeigen.“ Der britische Sachbuchautor Ray Wyre, spezialisiert auf die therapeutische Behandlung von Sexualverbrechern, in seinem Buch „Und bist du nicht willig“: „75 Prozent der Frauen, die in London beim Vergewaltigungsnotruf ‚Rape Crisis‘ Hilfe suchen, gehen nicht zur Polizei.“
Eine Studie der österreichischen Polizei ergab zusätzlich Alarmierendes: Rund die Hälfte der attackierten Frauen wehrt sich aus Angst nicht. In 90 Prozent dieser Fälle wurde die Notzucht vollzogen.
Fazit der Polizei: „Gegenwehr tut not.“ Und: Die oft gehörte Theorie, man müsse alles über sich ergehen lassen, da man sich andernfalls in Lebensgefahr bringe, ist durch die Realität widerlegt. Wer aber sein Leben lang gelernt hat, physisch schwächer zu sein als das andere Geschlecht, wagt selten die Hand zu erheben. Und sei es nur in Notwehr.
Selbstverteidigung. Simple, aber wirkungsvolle Sofortmaßnahmen im Fall des Notfalls:
• Die eigene Stimme: 99 Prozent jener Frauen, die bei einem Vergewaltigungsversuch lauthals um Hilfe riefen, konnten die Täter damit von ihrem Vorhaben abbringen.
• Flucht: Keiner jener Frauen, die ihre Chance zu rennen nutzten, wurde Gewalt angetan.
• Körperkraft: 90 Prozent aller Opfer, die sich aktiv zur Wehr setzten, konnten sich dem Gewaltakt entziehen. Sexualtherapeutin Rotraut Perner, im Nebenjob Konsulentin der Wiener Sicherheitsbehörde: „Schon entschlossenes Auftreten kann potentielle Angreifer abschrecken.“ Und: „Es wird kaum damit gerechnet, daß Frauen sich aktiv wehren. Tun sie es doch, kann dies den Täter aus dem Konzept bringen und dem Opfer eine Schrecksekunde zur Flucht eröffnen.“
Die Kurse. Mit anderen Worten: Zurückschlagen im richtigen Augenblick kann lebensrettend sein. Und an professionellem Know-how fehlt es nicht: Kurse zur Notwehr, die speziell auf die Bedürfnisse von Frauen zugeschnitten sind, stehen reichlich zur Verfügung. Von fernöstlichen Techniken wie Wing Tsun und Jiu Jitsu bis hin zu eigens kreierten Mischformen wie dem knochenharten österreichischen Shin Go Do oder Ken Jitsu aus Deutschland.
Revierinspektor Ernst Binder von der Wiener Polizei: „Frauen, die sich wehren, werden zu unangenehmen Opfern. Somit besteht für die meisten Täter kein Anreiz mehr.“ Binder weiß, wovon er spricht: Mit einer Sondereinheit der Polizei bietet er kostenlose Selbstverteidigungskurse für Frauen an. Die dort gelehrte Technik ist eine der verbreitetsten und bewährtesten:
Jiu Jitsu. Karin packt ihren Partner am weißen Kampfgewand. Sekunden später liegt er auf dem Boden. „Jiu Jitsu bedeutet wenig Krafteinsatz, hohe Wirkung“, doziert Frauentrainer Ernst Binder. Waffen lehnt er ab, weil sie auch gegen ihren Besitzer gewandt werden können. Dafür schwört er auf den Erfolg seines „10-Einheiten-Kurses“: „Das Angebot an Selbstverteidigungskursen ist lobenswert. Aber Polizisten sind wegen ihrer Hintergrundinformation kompetenter.“ Vorkenntnisse oder körperliche Voraussetzungen: unerheblich. Binder, illusionslos, über die Möglichkeiten der 14- bis 60jährigen Kursteilnehmerinnen: „Ein Drittel ist talentiert, eines bemüht. Das letzte Drittel allerdings sollte nachts auch nach dem Kurs lieber nicht allein spazierengehen.“
Shin Go Do. Nora drischt wie besessen mit Boxhandschuhen auf ihren Trainer Christian Weisz los. „Fester, fester!“ mobilisiert der Attackierte letzte animalische Reserven in seiner dreißigjährigen Schülerin. „Stell dir wen ganz Bösen vor!“ Nora schuftet wie ein Profi-Boxer: Das schweißnasse Gesicht verbissen, die eindrucksvollen Muskelpakete gespannt. Nora trainiert seit zwei Jahren Shin Go Do. Bei ihr hat kein Angreifer mehr leicht lachen.
Das harte Selbsthilfesystem wurde vom 32jährigen Wiener Ex-Detektiv Weisz aus Elementen des Jiu Jitsu, des Kick- und Thaiboxens und aus AntiTerror-Techniken kreiert. Kraft- und Ausdauertraining gehören zum Programm in Weisz‘ Studio.
Weisz: „Es dauert einen Monat, bis Frauen ihre Schlaghemmung ablegen. Dann aber stehen sie den Männern in nichts mehr nach.“ Wer bei ihm lernen will, muß ein mehrmonatiges Training buchen. „Schnellkurse bringen nichts. Es dauert, bis Bewegungsabläufe wie Reflexe funktionieren.“
Berufs-Leibwächterin Gisela, 33, kann die Ausführungen des schlagfertigen Trainers nur bestätigen: Sie praktiziert seit Jahren Shin Go Do, und der Erfolg ist nachhaltig. Nicht zuletzt deshalb, weil mit weiblicher Power nicht gerechnet wird. Gisela, 1,64 m groß und von zierlichem Wuchs: „Ich war zur Abwehr von Ladendieben eingesetzt. Als ich zwei Männer stellen wollte, ergriffen sie die Flucht und lauerten mir später in einem Feld auf. Als mich einer von ihnen dort angriff, habe ich schnell zugepackt. Er war so überrascht, daß ich ihn mühelos umlegen konnte.“
Wing Tsun. Oliver König ist kein Mann, dem man etwas vormachen kann. Nur an eines glaubt der „Wing Tsun“-Trainer ohne Wenn und Aber: an die natürlichen Abwehrinstinkte und -kräfte aller Menschen. „Wing Tsun“, vor 250 Jahren von zwei Chinesinnen entwickelt und heute weltweit gelehrt, ist pure Selbstverteidigung. Angriffstechniken werden nicht gelehrt, die Energie wird gegen den Angreifer selbst gewendet. König, der die Technik in seinem privaten Institut Österreich-exklusiv anbietet: „Das Training verschafft einer 50-Kilo-Frau die Möglichkeit, einen 100-Kilo-Mann locker aufs Pflaster zu knallen. Die Frauen müssen weg von der Opferrolle. Wer selbstsicher auftritt, vereitelt präventiv.“ Wie auch bei Shin Go Do trainieren Männer und Frauen gemeinsam. König: „Nur so lassen sich Situationen realistisch üben.“
Ken Jitsu. Keine Spur fernöstlicher Sanftmut verströmt Hans Haidinger, Inhaber eines Fitneß-Studios und Ken-Jitsu-Trainer: „Halbherzige Gegenwehr führt zu nichts. Das Opfer muß sich im Ernstfall mit 100 Prozent zur Wehr setzen. Zur Selbstverteidigung ist jedes Mittel recht – vom Schirm bis zum Schlüsselbund.“ Vorsorglicher Zusatz: „Schläger will ich aber keine heranbilden.“ Das vielseitige Abwehrsystem stammt aus Deutschland und kombiniert Karate, Judo und Tae Kwon Do. Produziert werden Einzelkämpfer, Gruppentraining lehnt Haidinger ab: „Uns geht es um die Motivierung der Psyche. Das kann man nur im Einzeltraining vermitteln.“
Die Realität. Ohne diese mannigfachen Techniken der Selbstverteidigung wird das weibliche Leben mühsam. Eine deutsche Studie belegt, wie sich Frauen gegen Attacken vorsehen:
- 53 Prozent aller Frauen gehen im Dunkeln nicht mehr aus dem Haus (Männer: 10 Prozent).
- 87 Prozent machen lieber einen Umweg, als nachts durch bedrohliche Gegenden zu gehen (Männer: 42 Prozent).
- 46 Prozent achten darauf, sich nicht auffällig zu kleiden (Männer: 15 %).
- 57 Prozent fahren nach Möglichkeit mit dem Taxi nach Hause (Männer: 26 Prozent).
- 12 Prozent schließlich vertrauen lieber handfesten Methoden: Sie haben den Tränengasspray oder die Gaspistole zur Hand (Männer: 10 Prozent).
Freilich: Nicht alles, was hilft, ist auch erlaubt. So ist der in Deutschland bewährte Tränengas-Spray hierzulande verboten: Das etwas schrullig gefaßte heimische Waffengesetz verbietet alle Verteidigungsgegenstände, die nicht als Waffe erkennbar sind. Das bedeutet: Tränengas darf nur aus der Pistole, nicht aber aus der Spraydose abgefeuert werden. Aus demselben kuriosen Grund sind auch die – in den USA alltäglichen – Mini-Elektroschock-Geräte bei uns untersagt.
Alarm für die Tasche. Nicht waffenscheinpflichtig und höchst wirksam: akustische Alarmgeräte (erhältlich z. B. bei Maly, Alarm, 1020 Wien, Praterstr. 1). Polizei Experte Peter Jedelsky: „Alle unsere Studien zeigen, daß sich die meisten Täter durch Schreie des Opfers abschrecken lassen. Umso wirksamer ist die Alarmsirene in der Handtasche.“
Neu auf dem Markt ist die rettende Stinkbombe „Rapel“: Eine kleine Kapsel soll, am BH befestigt, Angreifer durch penetrante Abwehrdüfte in die Flucht schlagen. Ausgelöst wird der aromatische Erstschlag durch Fingerdruck. Für die Zeit der Entwarnung (und für allfälligen Fehlalarm) wird ein Gegenmittel mitgeliefert, das den Gestank wieder aus den Kleidern vertreibt (bei BIPA).
Derlei Selbstschutz ist nach wie vor nötig, denn die öffentliche Hand ballt sich nur zögerlich zur Faust, wenn es darum geht, attackierten Frauen beizustehen. Frauenberaterin Rosa Logar: „Die Männer putzen sich ständig an den Frauen ab, wenn es um Hilfe oder Prävention geht. Sogar die geringen Mittel, die für Notruf und Beratung zur Verfügung stehen, muß das Frauenministerium zur Gänze aus seinem minimalen Budget bezahlen.“
Damit kein Mann irrtümlich und zu unrecht in den zweifelhaften Genuß der weiblichen Selbstschutzmittel gerät, hat der „Verein der österreichischen Frauenhäuser“ mit bitterer Ironie eine Tip-Liste für Männer erstellt. Dort wird den Herren geraten: „Vermeiden Sie es, bei Dunkelheit allein unterwegs zu sein.“ Oder: „Geht eine Frau ohne Begleitung vor Ihnen, wechseln Sie die Straßenseite.“
Abwehr-Strategien
Experten-Rat für den Ernstfall: So geht’s
- Bodyguard Gisela (Shin Go Do): „Gegen einen Würgeangriff ziehen Sie die Schultern hoch, Kinn an die Brust, damit der Angreifer nicht an den Kehlkopf kann. Dann schlagen Sie seine Arme kräftig weg.“
- Hans Heidinger (Ken Jitsu): „Zeigen Sie niemals Angst. Wenn Sie jemand anstarrt, starren Sie zurück. Ihre Körpersprache sollte niemals Unsicherheit verraten. Wenn Sie dennoch angegriffen werden, zielen Sie auf Weichteile und Augen.“
- Oliver König (Wing Tsun): „Behelfsgegenstände – ein großer Schlüsselbund oder ein Stock – können als wirksame Abwehrmittel dienen. Probieren Sie auch Psycho-Tricks, zum Beispiel, indem Sie den Angreifer verunsichern: „Ich muß gleich brechen.“
- Ray Wyre (Psychotherapeut und Autor): „Wenn Sie ein ungutes Gefühl haben, rennen Sie weg. Haben Sie keine Skrupel. Schreien Sie lieber Feuer als Hilfe, die Leute helfen bereitwilliger, wenn sie nicht damit rechnen, auf Gewalt zu treffen.“
- Peter Jedelsky (Wiener Polizei): „Im Notfall bleibt keine Zeit, in der Handtasche nach der Alarmsirene zu wühlen. Nehmen Sie den Lärmmacher in die Hand, bevor Sie in eine dunkle Gasse gehen.“
Service
Selbstverteidigung und Beratung
Hier finden Sie die besten Anlaufstellen für den persönlichen Schutz
Selbstverteidigungskurse
Wing-Tsun-Schulen
(auch für die Filialen in den Bundesländern): Zentrale Informationsstelle Oliver König, Wien, Tel.: 0 22 2/76 66 34 (Kursgebühr: öS 7355,- pro Jahr).
Shin Go Do
Information: Fitneß-Studio White Gym, Wien, Tel.: 0 22 2/713 74 92 (4 Monate Grundkurs: öS 4000,-).
Ken Jitsu
Information: Fitneß-Studio Elias & Heidinger, Wien, Tel.: 0 22 2/714 32 12 (nur gegen Vereinbarung).
Jiu-Jitsu
Informationsstelle der Bundespolizeidirektion Wien-Schottenring, Tel.: 0 22 2/3131-0 (kostenlos) .
Personenschutz mit Vermittlung weiblicher Bodyguards
Detektei Pöchhacker
Tel.: 0 22 2/712 14 68 (Wien)
Detektei Sturm
Tel.: 0 22 2/220 05 40 (Wien)
Notruf für vergewaltigte Frauen:
Wien: Tel.: 0 22 2/93 22 22 oder Tel.: 0 22 2/52 36 99-0 (Beratungsstelle für sexuell mißbrauchte Frauen)
Linz: Tel.: 0 73 2/2129
Steyr: Tel.: 0 72 52/657 49
Salzburg: Tel.: 0 66 2/88 1100
Graz: Tel.: 0 316/9188 00
Innsbruck: Tel.: 0 512/57 44 16
Klagenfurt: Tel.: 0 46 3/566 66