Hab nur g’schaut

Hab nur g’schaut

Thomas TRESCHER – Printausgabe vom Juni 2014 – Datum |


Eine halbe Milliarde Euro Schaden pro Jahr, eine Dunkelziffer von 90 Prozent: Ladendiebstahl ist ein unterschätztes Phänomen. Vor allem Jugendliche riskieren ihre Zukunft für den Kick beim Klauen.

Für seine Überzeugung würde er ins Gefängnis gehen. Und das könnte auch jeden Tag passieren. Immer dann, wenn er einkaufen geht. P., lange Haare, Vollbart, sitzt im oberen Stockwerk des Cafe Glaser gleich bei der Wiener Universität, wo sonst tagsüber niemand sitzt. Immer, wenn Schritte auf der Treppe die Kellnerin ankündigen, bricht der 28-Jährige seine Erzählung mit einem verschwörerischen Blick kurz ab. Wenn P. einkaufen geht, braucht er kein Geld. „Aber ich klaue nur bei großen Ketten, wo ich nicht das Gefühl habe, jemandem etwas wegzunehmen“, sagt er. Ein- bis zweimal pro Tag steckt er ein, was er braucht. Manchmal kommt es vor, dass die Dinge, die er braucht, zu groß sind, um sie einzustecken. Aber auch das ist kein Problem.

„Letztens habe ich mir einen Drucker gefladert. Das war leicht, ich bin mit dem Gerät einfach zur Tür hinaus. Eine nette Mitarbeiterin hat mir sogar noch die Tür aufgehalten“, sagt er und lacht. Zwei Jahre ist es her, da wurde er erwischt. „Ganz normal beim Essenklauen.“ Wahrscheinlich, sagt er, „war ich zu gierig. Am Anfang ist man übervorsichtig, dann wird man überschwänglich. Es gibt auch den kleinen Machtrausch, stehlen zu können, was man will. Dann macht man es sogar, wenn man nicht muss, einfach um des Stehlens willen.“ Als er erwischt wurde, „habe ich mir zu viel Zeit gelassen, bin zu oft an Kameras mit Sachen vorbeigegangen, die dann weg waren“. Damals wurde das Verfahren eingestellt, nächstes Mal wird es zumindest eine Geldstrafe setzen. „Mal schauen, ob ich die zahlen könnte“, sagt P. Und wenn nicht? „Halt ein bissl Gefängnis.“

P. lehnt Geld als Herrschaftsmittel ab und sieht Lohnarbeit als „schlimmste Form der Ausbeutung“ an. Vermutlich ist er kein typischer Ladendieb. Andererseits, den typischen Ladendieb gibt es nicht. Es sind nicht nur solche, die den Kapitalismus ablehnen, sondern auch jene, die einfach haben möchten, was er bietet. Gerade Ladendiebstahl ist drauf und dran, zum neuen Trend im Netz zu werden. Den »Bling Ring« nennen Medien jene kürzlich aufgetauchten Blogs, auf denen – meist US-amerikanische – User mit Namen wie „Liftswitch“ oder „Kleptobunny“ ihre Beute abfotografieren und ins Internet stellen – Parfums, Unterwäsche oder einfach nur teure Schokolade. Immer, das ist Teil des Spiels, mit einer Auflistung der gestohlenen Produkte und ihren Preisen, um der Welt zu zeigen, wie viel sie gerade gespart haben. Sie tauschen Tipps aus, formulieren Regeln –„1.Werde nicht erwischt. 2. Sei nicht gierig. 3. Sei nicht dumm. 4. Sei nicht eingebildet“ – oder protzen einfach nur mit ihrer Unverfrorenheit. „Lächelt ihr den Security auch an, wenn ihr mit gestohlenen Dingen aus dem Laden geht?“ Oder: „Ich mag Leute, die sagen, wenn wir klauen, steigen die Preise – Schätzchen, wir zahlen sowieso nicht. „Über jedem Blog steht ein fadenscheiniger Disclaimer, mehr zynisch als augenzwinkernd: Es handle sich nur um ein Rollenspiel, sie würden gar nicht wirklich stehlen. Die meisten von ihnen sind junge Frauen, ihre Websites oft rosa eingefärbt und mit Blumenmustern geschmückt , auf ihren Selfies sind sie nur unkenntlich zu sehen. Stehlen, so vermitteln sie es jedenfalls, ist für sie ein Lebensgefühl.

Es ist aber lediglich eine neue Facette eines Phänomens, das es gibt, seit es Selbstbedienungsläden gibt. Ladendiebstahl, das ist Kriminalität aus der Mitte der Gesellschaft. Und nur ein Bruchteil klaut aus Not. Die Geschichten, die Menschen erzählen, die sich mit Ladendiebstahl beschäftigen, reichen von Mutproben Jugendlicher bis zu der gutbürgerlichen Frau, die unter ihrem Hut ein gefrorenes Huhn versteckte und unter der tiefgekühlten Last in der Schlange vor der Kassa zusammenbrach. Von Eltern, die ihren strafunmündigen Kindern im Supermarkt die Schultasche mit Lebensmitteln auffüllen, bis zum 59-jährigen ÖVP-Gemeinderat in Niederösterreich, der zurücktreten musste, weil er Waren im Wert von nicht einmal 20 Euro mitgehen ließ. Fast jeder kennt irgendjemanden, der früher geklaut hat, und die, die es gemacht haben, erzählen ihre Erlebnisse meist nicht schamerfüllt. Viel eher schwingt ein wenig Stolz mit.

Ein bisschen wirkt es auch bei August Baumühlner so, obwohl er das natürlich nicht zeigen darf. „Ich habe geklaut wie ein Rabe“, sagt er, und ein kurzes Grinsen huscht über sein Gesicht. „Es gab Tage, da ist es wie geschmiert gelaufen.“ Aber Baumühlner steht auf der anderen Seite. Er leitet den Bereich Kriminalprävention bei der Wiener Polizei, ist spezialisiert auf Ladendiebstahl, und wenn er klaut, dann macht er das mit Auftrag, als Testdieb. „Das war sehr wichtig für mich. Weil man es aus der Sicht eines Diebes sieht: Was wirkt auf mich?“ Der Ladendieb, er ist ein unbekanntes Wesen mit vielen Gesichtern.

Über Ladendiebstahl werden auch deshalb viele Geschichten erzählt, weil es wenige Fakten gibt. 15.813 Fälle wurden im Jahr 2012 in Österreich angezeigt, dazu kommen 1.780 Fälle von Diebstahl durch Mitarbeiter, aber das sagt alles nicht viel aus. „Ich kenne kaum ein anderes Delikt, wo es so ungenaue Angaben gibt wie beim Ladendiebstahl“, sagt Baumühlner. Klar sei nur: „Es ist ein Massendelikt.“ Er geht davon aus, dass „90 bis 95 Prozent der Fälle nie zur Anzeige kommen“. Das würde bedeuten, dass bis zu 350.000-mal pro Jahr, 960-mal pro Tag, 40-mal pro Stunde in Österreich jemand mit Waren aus einem Geschäft spaziert, ohne sie zu bezahlen. Die meisten Diebe, sagt Baumühlner, seien Amateure, er nennt sie „unehrliche Kunden“, und sie „bekommen vielleicht erst im Geschäft den Impuls, etwas zu stehlen“. Organisierte Diebesbanden, die mit Werkzeugen und präparierten Taschen kommen, „machen vielleicht zehn Prozent aus“.

Aber warum stehlen Menschen wie du und ich, die sonst nie auf die Idee kämen, eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen, warum nehmen sie dieses Risiko auf sich? Nach Zahlen des Bundeskriminalamts aus dem Jahr 2004 waren mehr als die Hälfte der polizeilich erfassten Ladendiebstähle solche, bei denen Waren im Wert von weniger als 15 Euro gestohlen wurden. Wer etwas einsteckt, tut das meistens nicht aus Not oder um sich zu bereichern. „Es gibt viele Motive: die Abenteuerlust, den Nervenkitzel. Vor allem ältere Personen erleben dabei eine Art Kick. Dazu kommt die Geltungssucht, die Suche nach Prestigeobjekten“, sagt Baumühlner.

Aber wer beim Stehlen erwischt wird, merkt schnell, dass es nicht das Kavaliersdelikt ist, als das es oft gilt. Ladendiebstahl ist zumindest eine Entwendung, nämlich dann, wenn nach Paragraf 141 des Strafgesetzbuchs „jemand aus Not, aus Unbesonnenheit oder zur Befriedigung eines Gelüstes eine Sache geringen Wertes einem anderen entzieht“. Sie ist mit höchstens einem Monat Freiheitsstrafe bedroht, aber der Übergang zum Diebstahl ist fließend: Wer etwa bei wolkenlosem Himmel eine Sonnenbrille stiehlt und sofort aufsetzt, kann auf Entwendung plädieren – ist der Himmel bewölkt, gilt es bereits als Diebstahl. Auf den stehen schon bis zu sechs Monate Gefängnis; genauso wie auf Betrug, wenn etwa Etiketten vertauscht werden.

Dass sich Ladendiebe aber vor diesen Konsequenzen kaum fürchten müssen, dass nur so wenige erwischt werden, hänge nicht zuletzt damit zusammen, dass „es ihnen zu einfach gemacht wird“, sagt Baumühlner. „Sehr wenige Betriebe haben Securitys, Detektive oder Warensicherungen. Aber das größte Manko sind schlecht ausgebildete Mitarbeiter. Wenn sie jemanden sehen, der etwas eingesteckt hat, wissen sie oft nicht, was sie sagen sollen.“ Gestohlen wird gerne, was klein und teuer ist – Rasierklingen, Speicherkarten und Kosmetikartikel. Aber auch Produkte wie jene kleinen Süßigkeiten, die bei der Kassa zu Impulskäufen verleiten sollen.

Hier zeigt sich das Dilemma des Handels: dass Ladendiebe oft ganz normale Kunden sind, dass sie auf dieselben Reize reagieren. „Ein Geschäft so zu gestalten, dass es für den potenziellen Ladendieb ungemütlich und für den ehrlichen Kunden ansprechend ist – das ist quasi die Quadratur des Kreises“, sagt Roman Seeliger, Spezialist für Ladendiebstahl in der Wirtschaftskammer. Jeder Schritt, der es dem Ladendieb schwerer macht, könnte auch dem Kunden die Lust auf den Konsum verderben. Wenn die Rasierklingen weggesperrt sind, wenn Kunden erst die Verkäuferin darum bitten müssen, sie aus dem Lager zu holen – gehen sie dann nächstes Mal in ein anderes Geschäft, in dem sie diesen ganzen Ärger nicht haben?

Ob der Billa- und Merkur-Konzern Rewe, ob Spar oder H&M: Zahlen über Diebstahl in den eigenen Geschäften verraten sie nicht. Auch deshalb, weil es schlecht aussieht, wenn bekannt wird, dass in den eigenen Geschäften viel gestohlen wird. Und weil man den Kunden nicht als Dieb abstempeln will. Grundsätzlich wird der Wert der gestohlenen Waren über die Inventurdifferenz ermittelt, den so genannten Schwund – Waren also, die auf irgendeine Weise verschwunden sind. Diese Inventurdifferenz beträgt laut Wirtschaftskammer rund ein Prozent des Umsatzes, das ist auf den gesamten Handel – ohne Kraftfahrzeuge – hochgerechnet eine halbe Milliarde Euro pro Jahr. „Das ist eine Größenordnung, die dem gesamten Gewinn des Handels entspricht“, sagt Roman Seeliger.

Es sind nicht nur Kunden, die diese Differenz verursachen, sondern vielfach auch die eigenen Mitarbeiter – denen das Stehlen noch viel leichter fällt. Sie wissen genau, welche Waren gesichert, ob die Kameras nur Attrappen sind und wer kein Kunde, sondern Ladendetektiv ist. Die Schätzungen, wie viel vom Schwund auf Kosten der eigenen Mitarbeiter geht, gehen ebenfalls weit auseinander, aber zumindest in einem sind sich alle einig: Diebische Mitarbeiter gibt es anteilsmäßig weniger, sie richten aber, wenn sie stehlen, mehr Schaden an als ein Kunde. Einer dieser Mitarbeiter war D., ehemaliger Abteilungsleiter einer Buchhandelskette. Er war einer von rund 80 Angestellten, dabei „wusste ich von mindestens 20 bis 25, die regelmäßig geklaut haben oder zumindest davon wussten, dass es andere machen“. Gestohlen wurde exzessiv und mit System: )“Einer ist jedes Mal mit einem ganzen Sackerl Bücher nach Hause gegangen, der hatte zwei oder drei Dienste pro Woche. Ich weiß nicht, was der mit den Büchern gemacht hat, ob er sie weiterverkauft hat oder nur zu Hause herumstehen hatte. Lesen konnte er die nicht alle. „D. und seine Kollegen haben sich nicht nur auf jene Waren beschränkt, die sowieso vorhanden waren: „Wenn wir Bücher haben wollten, die wir nicht im Geschäft hatten, haben wir die unter falschem Namen bestellt und dann mitgenommen, wenn sie angekommen sind.“

Allerdings, sagt er, der größte Teil der Inventurdifferenz sei nicht durch Mitarbeiter zustande gekommen, und auch nicht durch diebische Kunden: „Der Schwund passiert anderswo. Wenn Bücher ankommen, passiert es oft, dass die bestellte und die gelieferte Anzahl nicht übereinstimmt, ohne dass es jemandem auffällt – ohne böse Absicht. Dann fehlen plötzlich tausend Bücher auf einmal. Wir hatten durchschnittlich einen Schwund von zwei Prozent, das Unternehmensziel waren 1,4. Da waren wir aber trotzdem im Schnitt aller Filialen, der Diebstahl fiel also kaum ins Gewicht. „Ist es also ein Verbrechen ohne Opfer? „Natürlich schadet man dem Unternehmen, das ist klar. Manchmal ist aber genau das auch das Ziel, wenn man sich unterbezahlt oder unfair behandelt fühlt.“

Sich gegen klauende Kunden und Mitarbeiter abzusichern ist teuer, Detektive und Securitys müssen engagiert werden, Sicherungsmaßnahmen implementiert, Mitarbeiter geschult. Vermutlich wäre das manchmal sogar teurer als der Schaden, der durch Diebstahl entsteht. Ist Ladendiebstahl also ein Phänomen, das es gibt, das aber niemandem wirklich wehtut? Wer die wahren Probleme finden will, die sich durch Ladendiebstahl ergeben, muss noch eine Ebene tiefer gehen, zu jenen, die tagtäglich damit zu tun haben.

Überall, wo gestohlen werden kann, wird auch gestohlen“, sagt Detektiv Walter Pöchhacker.

Zu Menschen wie Walter Pöchhacker. Mit seiner Detektivagentur macht er seit 1983 Jagd auf Ladendiebe. In seinem Wartezimmer steht eine lebensgroße Puppe mit Anzug, Hut und Schnurrbart, wie aus einem Film noir – Pöchhacker weiß, dass Inszenierung Teil seines Jobs ist. Mit brummiger Stimme erzählt er auf Wienerisch aus dem Alltag eines Ladendetektivs. Seine Erfahrungen lassen sich mit einem Satz zusammenfassen: „Überall, wo gestohlen werden kann, wird auch gestohlen.“ Warum und was Kunden stehlen, interessiert ihn weniger als die Frage, wie sie es machen. Mehr als 112.000 Ladendiebe haben Pöchhacker und seine Kollegen bislang erwischt, seine Detektei führt penibel Buch über Alter und Verstecke der Diebe – damit verfügt er vermutlich über das beste Datenmaterial in Österreich. Seine Statistik über die Verstecke ist wenig überraschend, ein Viertel des Diebesguts landet einfach in der Jackentasche, auf den Plätzen folgen „Unter Bekleidung verborgen“, „Hosentasche“ und „Einkaufstasche“. Weitaus spannender, und hier offenbart sich die wahre Problematik, ist die Altersstatistik: Die Spanne der von der Detektei aufgegriffenen Diebe reicht von sechs bis 92 Jahren, an der Spitze allerdings stehen Zwölf- und 13-jährige – Jugendliche, die noch nicht einmal strafmündig sind, aber drauf und dran, sich ihre Zukunft zu verbauen. Wer ab der Strafmündigkeit beim Klauen erwischt wird, muss mit einer Anzeige rechnen, und der Fall geht zur Staatsanwaltschaft, die das Verfahren beim ersten Vergehen – je nach Höhe des Schadens – vermutlich einstellen wird; nicht aber, wenn bereits Vormerkungen vorhanden sind, die auch bei strafunmündigen Tätern gemacht werden. Sollte jemand noch einmal erwischt werden, wird der Fall vermutlich vor den Richter kommen – und der Betroffene hat außerdem eine Vorstrafe.

„Es ist ein besonderes Delikt“, sagt der Linzer Strafrechtler Alois Birklbauer – und meint damit: ein unter Jugendlichen fast alltägliches. Im Jahr 2012 befragte er mit Kollegen für eine Studie der Johannes-Kepler-Universität knapp 3.000 Dritt- und Viertklässler in Ober- und Niederösterreich. 18 Prozent gaben an, schon einmal etwas gestohlen zu haben – also fast jeder fünfte Jugendliche. In Wien dürften die Zahlen noch höher sein. „Es gibt ein Stadt-Land-Gefälle, die Anonymität spielt eine große Rolle“, sagt Birklbauer. Und es ist nicht so, dass den Jugendlichen nicht klar wäre, etwas Verbotenes zu tun. „90 Prozent wissen das, sie schätzen auch das Entdeckungsrisiko höher ein, als es wirklich ist. Zwei Drittel beurteilen Ladendiebstahl negativ, und drei Viertel der Ladendiebe haben ein schlechtes Gewissen“, sagt Birklbauer. Warum tun sie es dann trotzdem?

„Wichtig ist der Eventcharakter. Laut unserer Studie klauen drei Viertel gemeinsam mit ihren Freunden. Das Abenteuer steht an erster Stelle, Freunde zu beeindrucken an zweiter, finanzielle Motive erst an dritter.“ Aufbauend auf den Ergebnissen hat Birklbauer im Vorjahr einen Vorschlag gemacht, der den Jugendlichen Richter wie Vorstrafe ersparen soll: Jugendliche Ladendiebe sollten direkt nach der Tat eine Art Strafzettel plus Geldstrafe in die Hand gedrückt bekommen und nicht in die Mühlen des Justizsystems geraten. Denn „Ladendiebstahl geht durch alle Schichten, und bei den meisten Tätern ist keine Resozialisierung nötig“, sagt er. Die größte Angst der Jugendlichen sei, „dass die Eltern informiert werden. Aber das würde sowieso passieren.“ Die Jugendlichen würden vor keinem Richter stehen, so ähnlich wie bei dem Mandatsverfahren, das Justizminister Wolfgang Brandstetter im Zuge seiner Reform der Strafprozessordnung gerade vorgeschlagen hat. Birklbauers Vorschlag hätte vor allem einen Vorteil: Die Strafe würde die Jugendlichen sofort ereilen.

Denn im Normalfall dauert es „im Fall eines Ladendiebstahls von der Tat bis zur Verhandlung im Schnitt ein halbes Jahr. Das ist in dem Alter extrem viel Zeit“, sagt Doris Nachtlberger, Bezirksrichterin in Wien-Floridsdorf. Wer ihr zuhört, bekommt einen anderen Eindruck von Ladendieben. Bei ihr landen jene Jugendlichen, die nicht nur einmal stehlen, sondern immer wieder, bis das Verfahren irgendwann nicht mehr eingestellt wird, sondern sie vor dem Richter landen. Solche Jugendlichen, die Gefahr laufen, eine kriminelle Karriere einzuschlagen, oder längst dabei sind. Von einem Strafzettel oder einem Mandatsverfahren hält sie deshalb nichts. „Was passiert, ist, dass man diese Bagatelldelikte auch in der Strafrechtspflege bagatellisiert: Ist ja eh nix. Es wird viel zu lange einer negativen Entwicklung zugesehen. Man schaut nicht genau hin, schaut sich die Jugendlichen gar nie an, und was lernen sie daraus? Es passiert nix! Also machen sie den nächsten Diebstahl. Und irgendwann gehen sie einen Schritt weiter.“ Sie glaubt, dass Ladendiebstahl oft ein Schrei nach Aufmerksamkeit ist: „Ich bin da, macht doch was!“ Wann immer sie einen Ladendieb vor Gericht hat, lässt sie ihn zuallererst einen Aufsatz schreiben, in dem er oder sie über die Tat reflektieren soll. „Es ist erstaunlich, wie unglaublich offen sie da sind, von sich aus.“

Die Jugendlichen, die bei der Wiener Bezirksrichterin landen, sind keine Ersttäter und „schleppen größere Probleme mit sich herum“. Mädchen und Burschen, sagt sie, klauen unterschiedlich – und auch aus unterschiedlichen Motiven: „Die Mädchen klauen Kosmetik und Schmuck, kleinere Sachen, die sich gut verstecken lassen. Sie haben durch die Bank Selbstwertprobleme, oft echte Depressionen, sind vom Charakter her eher schwach und labil, haben familiäre Probleme, sind beeinflussbar, kriegen nichts auf die Reihe. „Ihnen gehe es vor allem um den Kick, sagt Nachtlberger. „Das hat meistens mit den Depressionen zu tun, die müssen sich spüren. Die hätten auch oft genug Geld dabei, um zu bezahlen, und man fragt sich, wieso ?“ Die Burschen hingegen „klauen teurere Designersachen, meistens indem sie in der Kabine die Diebstahlsicherung entfernen und es unter ihrer Kleidung tragen. Sie machen das meistens nicht alleine, sondern in der Gruppe.“

Viele von ihnen haben Vorstrafen, beispielsweise wegen Raubüberfällen. Ihre Eltern seien oft psychisch krank, Alkoholiker oder überhaupt nicht anwesend – es sind also Jugendliche, denen die eine erzieherische Instanz fehlt. Genau die will Nachtlberger sein: „Als Jugendrichter hab ich einen Erziehungsauftrag.“ Um sie von weiteren und schwereren Straftaten abzuhalten. „Ich mache ihnen klar, wir können einen Anstoß geben, aber es ist wie bei einem Auto: Wir können es anschieben, aber wenn es in Bewegung ist, muss derjenige, dem der Schlüssel gehört, den Motor anwerfen – es geht also ganz stark um die Eigenverantwortung.“ Wenn das nicht funktioniert, würden sie immer wieder vor Nachtlberger auf der Anklagebank sitzen: „Diejenigen Erwachsenen, die 30 Vorstrafen haben, haben alle als Jugendliche angefangen.“ Das Strafverfahren könne beitragen, die falsche Entwicklung zu stoppen: „Ich muss dem Jugendlichen spürbar machen, das ist dein Leben, da geht es um etwas.“

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